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Warum wir Feindbilder lieben – Ein Blick in den Maschinenraum unserer Gesellschaft
Kennen Sie das? Sie schalten eine politische Talkshow ein und erleben, wie Menschen aneinander vorbeireden, als kämen sie von unterschiedlichen Planeten. Sie scrollen durch Social-Media-Kommentare und sehen Gräben, die unüberwindbar scheinen. Sie sitzen bei einem Familienessen und ein einziges Reizwort genügt, um die Stimmung zum Kippen zu bringen.
Es fühlt sich an, als wäre ein vernünftiges Gespräch kaum noch möglich. Die Welt scheint sich immer schneller in zwei Lager zu sortieren: "Wir" und "Die Anderen". Aber warum ist das so? Warum ist die Versuchung so groß, ein Feindbild zu erschaffen?
Die Antwort liegt nicht nur in der Politik. Sie liegt tief in unserer Psychologie und unserem Umgang mit einer immer komplexer werdenden Welt.
Die Sehnsucht nach einer einfachen Welt
Unsere moderne Welt ist überwältigend. Klimawandel, globale Wirtschaftskrisen, Informationsfluten, soziale Umbrüche – all das erzeugt in uns ein Gefühl des Kontrollverlusts und eine tiefsitzende Angst. Unser Gehirn, das seit Jahrtausenden darauf trainiert ist, uns vor Gefahren zu schützen, hasst dieses Gefühl. Es sehnt sich nach einfachen, klaren Antworten.
Und die einfachste Antwort auf eine komplexe Bedrohung ist immer: ein klar definierter Feind.
Das Feindbild ist eine Art mentaler Abfalleimer. Wir können all unsere Ängste, unsere Frustrationen und unsere Wut hineinwerfen und ihm ein einziges, klares Gesicht geben: "die da oben", "die Medien", "die Ungeimpften", "die Klimakleber", "die Ausländer". Der genaue Name ist austauschbar. Die Funktion ist immer dieselbe: Eine komplizierte, beängstigende Welt wird auf einen simplen Gut-gegen-Böse-Konflikt reduziert. Das gibt uns das Gefühl, die Welt wieder zu verstehen und auf der richtigen Seite zu stehen.
Die Entmenschlichung: Wenn der Nachbar zum "Problem" wird
Sobald wir ein Feindbild erschaffen haben, passiert etwas Gefährliches. Wir hören auf, die Menschen auf der anderen Seite als komplexe Individuen mit eigenen Ängsten, Hoffnungen und vielleicht sogar nachvollziehbaren Gründen für ihre Sichtweise zu sehen. Sie werden zu einem Etikett, zu einem Symbol für alles, was wir ablehnen.
Sie sind nicht mehr Peter, der sich Sorgen um seinen Job macht, oder Sabine, die Angst vor der Zukunft ihrer Kinder hat. Sie sind nur noch "der AfD-Wähler" oder "die links-grün Versiffte". Wir nehmen ihnen ihre Menschlichkeit, damit wir sie ohne schlechtes Gewissen verurteilen können. Wie bei einem Computervirus versuchen wir nicht mehr, den Code zu verstehen; wir wollen die Datei nur noch löschen.
Der Preis der Einfachheit: Was wir wirklich zerstören
Diese scheinbare Vereinfachung hat einen extrem hohen Preis. Jedes Mal, wenn wir ein Feindbild erschaffen, "ermorden" wir symbolisch die wichtigsten Grundlagen unserer Gesellschaft:
- Wir ermorden die Wahrheit: In einer Welt aus Freunden und Feinden gibt es nur noch "unsere Wahrheit" und "ihre Lügen". Die objektive, nuancierte Realität stirbt in den Schützengräben des Ideologiekriegs.
- Wir ermorden die Empathie: Wir können kein Mitgefühl für einen "Feind" empfinden. Unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, verkümmert.
- Wir ermorden den Fortschritt: Komplexe Probleme erfordern die Zusammenarbeit aller klugen Köpfe. Im Zustand des Krieges gibt es keine Kooperation, nur den Versuch, den anderen zu besiegen. Echter Fortschritt wird unmöglich.
Der Ausweg: Die Kultivierung des "Raums dazwischen"
Wie entkommen wir dieser Falle? Der erste Schritt ist nicht, zu versuchen, unsere "Feinde" zu bekehren. Der erste Schritt findet in uns selbst statt. Es ist die bewusste Entscheidung, den winzigen Raum zwischen einem Reiz (z.B. einer provozierenden Schlagzeile) und unserer automatischen Reaktion (Wut, Verurteilung) zu finden und zu vergrößern.
In diesem "Raum dazwischen" können wir uns eine andere Frage stellen. Statt "Wie kann jemand nur so dumm/böse sein?", können wir fragen: "Welche Angst, welche Not oder welches ungestillte Bedürfnis könnte diesen Menschen zu seiner Überzeugung treiben?"
Diese Frage bedeutet nicht, dass wir zustimmen müssen. Aber sie verwandelt den "Feind" wieder in einen Menschen. Sie bricht die gefährliche Vereinfachung auf und öffnet die Tür einen Spalt breit für Verständnis und damit für echte Lösungen.
Eine bessere Welt beginnt nicht damit, dass wir unsere Feinde besiegen. Sie beginnt damit, dass wir die Kategorie "Feind" aus unserer eigenen Software löschen.